Rezension: “Digital Leadership”, Creusen / Gall / Hackl (2017)

Creusen / Gall / Hackl (2017) Digital Leadership. Führung in Zeiten des digitalen Wandels. Springer Gabler, Wiesbaden

Von Josef G. Boeck

Es ist schwer, die Fülle der Publikationen zum Thema digital leadership oder digitale Führung anhand ihrer Titel wenigsten grob einzuordnen. So geht es mir auch beim Buch von Utho Creusen, Birte Gall und Oliver Hackl. Der Untertitel „Führung in Zeiten des digitalen Wandels“ vermag die Erwartungshaltung ein wenig zu lenken, man muss aber schon zum Vorwort und in den Text gehen, um wirklich klar zu sehen: die Autoren wollen den „aktuellen Stand der digitalen, organisational relevanten Informationstechnologien sowie die entsprechenden Möglichkeiten im Management von Organisationen und Unternehmen“ (S VI) darstellen. Herausgekommen ist für mich ein Buch, das Führungskräften rät, auf die an vielen Stellen noch herrschende Ratlosigkeit, wie mit der digitalen Transformation umzugehen ist, mit einer Mischung aus bekannten und bewährten Führungskonzepten und Offenheit für aktuelle Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu reagieren.
Im ersten Kapitel beschreiben sie die „Treiber des digitalen Wandels in Unternehmen“ aus dem Blickwinkel der aktuellen technologischen Trends, gesellschaftlicher Entwicklungen und Befunden auf Unternehmensebene. Die Darstellung ist unaufgeregt, ordnet die wichtigsten Begriffe in der aktuellen Diskussion versiert ein und beschreibt so die technischen Trends, auf die Führungskräfte im Moment reagieren müssen. Im zweiten Abschnitt geht es um „Managementmethoden im digitalen Wandel“. Die Autoren betrachten agile Arbeitsmethoden, Arbeitskontexte wie mobile Arbeitsräume, digitale Gesundheit oder auch die Ansprache der Gen Y und Gen Z. Das Kapitel endet mit einer Betrachtung, wie Führungskräfte Innovationen in ihre Unternehmen bekommen, indem sie beispielsweise Barcamps/Hackathons anstoßen, eigene Corporate Start-ups gründen oder dezidierte Digital Units etablieren.
Der Hauptteil des Buches ist der Führung von Mitarbeitern im digitalen Wandel gewidmet (Kapitel 3). Die Darstellung konzentriert sich vor allem auf Wissensarbeiter, denen in den Organisationen neue Rollen zukommen. Die Führung muss zulassen, dass sie sich mehr selber organisieren als je zuvor, dass sie selber über die Art bestimmen, wie sie ihre Ergebnisse erzielen, sich selber die notwendigen Informationen für ihre Aufgaben besorgen und dass sie sich in ihren eigenen Netzwerken organisieren. Um das alles leisten zu können, brauchen sie möglichst viel Klarheit zum Kontext ihrer Ziele oder dürfen sich diese sogar selber suchen. Die Rolle der Führungskraft ändert sich damit hin zur Bereitstellung von entsprechenden Rahmenbedingungen und zur Rolle als Mentoren für die Mitarbeiter. Am Ende des Kapitels werden die Bausteine digitaler Führung so aufgelistet (S 178-181):
– Inspirieren durch Visionen und Emotionen
– Coach und Sparringspartner
– Offenheit und Vertrauen
– Geschwindigkeit und Zugang zu Wissen durch digitale Vernetzung
– Bestes Wissen einsetzen und teilen
– Mitarbeiter entwickeln
– Organisation als Community
– Transparenz bei Verantwortlichkeiten und Aufgaben
– Leading out Loud
– Fokussieren auf das Wesentliche
– High-tech und high-touch
– Stress im Team managen
Wer sich als Führungskraft diese Liste genauer ansieht, der wird vielleicht denken: so würde ich „zeitgemäße“ Führung beschreiben. Warum heißt das jetzt plötzlich „digitale Führung“? Darin besteht genau die Krux vieler Veröffentlichungen zum Thema Digitalisierung und Führung – im Grunde beschreiben viele Arbeiten „moderne“ Führung. So auch das Buch von Creusen / Gall / Hackl. Das schmälert den Wert der Darstellung keineswegs und ich frage mich, warum das nicht auf dem Buchdeckel zum Ausdruck kommt und warum im Buch praktisch jeder Wandel und jede Führung „digital“ sein muss. Wenn die Zahl der Bücher mit digital leadership im Titel unübersichtlich genug geworden sein wird, werden sich die Verlage hoffentlich wieder mehr trauen, mit aussagekräftigen Begriffen zu arbeiten. Der Eindruck, dass digitale Führung auch einfach nur „zeitgemäße“ Führung sein könnte, erhärtet sich übrigens auch durch den durchaus aufschlussreichen Blick auf die Beispiele Google, Apple und Microsoft. Wer es nicht kennt, für den zitiere ich aus dem Buch die Work Rules, die Lazlo Bock, Senior Vice President of People Operations, bei Google formuliert hat (S. 152-156):
– Give meaning to your employees’ work
– Trust your team
– Only hire people who are better than you
– Keep conversations about development separate from performance reviews
– Pay attention to your best and worst performers
– Be selectively generous
– Pay unfairly
– Nudge your employees in the right direction
– Ease into change
– Keep things fun and innovative
Es sind solche Stellen aus der unternehmerischen Praxis, die die Lektüre anregend und gewinnbringend auch für die Leser machen, die sich mit dem Thema digitale Transformation und Führung schon länger beschäftigen. Ich hätte mir von dieser Art noch viel mehr Einblicke in die Praxis gewünscht, weil sie doch die „neue digitale Führungswelt“ sehr anschaulich auf dem Boden der Realität zeigen.
Das letzte Kapitel „Neue Führungsansätze des Digital Leadership“ geht dagegen wieder mehr in die Theorie zurück, wenn über die Anwendung von Positive Leadership als Derivat von Positive Psychology oder die Anwendung des Synercube-Konzepts von Anatol Zankovsky geschrieben wird. Die für diese Konzepte angeführten Praxisbeispiele sind mager und wirken eher zufällig ausgewählt. Es erstaunt, dass sich nach alle den Ausführungen über die Rolle der Führungspersonen für den digitalen Wandel in Unternehmen auch ein Abschnitt dem Thema Holokratie – also der cheflosen Organisation – findet, ohne dass das Konzept genauer im Umgang in komplexen Umbruchphasen beschrieben und mit konkreten, längerfristigen Praxiserfahrungen verprobt wird. Es ist aber auch ein Beleg dafür, dass man mit dem Buch von Creusen / Gall / Hackl eine tour d’horizon durch das zeitgenössische Managementdenken bekommt, das man als Einsteiger ins Thema durchaus mit Gewinn lesen kann. Für Fortgeschrittene Praktiker enthält das Buch zu wenige Überraschungen.